In den letzten Jahrzehnten haben wir dafür gestritten Frauen dieselben Rechte zukommen zu lassen wie Männern. Wir dürfen glücklicherweise wählen gehen, ein Bankkonto eröffnen, Hosen tragen, selbst entscheiden, wen wir wie lieben wollen und Karriere machen (, wenn auch nicht mit gleicher Entlohnung  – wir wollen ja nicht übertreiben). Auf diese Errungenschaften können und sollten wir stolz sein. Sie sind die Grundlage für alles Weitere, sie sind richtig und wichtig, aber nur der halbe Weg, die halbe Wahrheit. Zusammengefasst ist es doch so: Neben ganz basalen und selbstverständlich sein sollenden Grundrechten haben Frauen sich das Recht erkämpft, sich in einer Männer dominierten Welt mit männlichen Eigenschaften auszustatten (bzw. die bei ihnen bereits vorhandenen besonders zu betonen) und nach männlichen Spielregeln mitzumischen. So weit so gut – aber kein Grund für einen Punkt.

Solange die Gleichstellung von Frauen und Männern nicht die Gleichstellung von Weiblichem und Männlichem bedeutet, sind wir längst nicht am Ziel.

Das Leben ist nur möglich durch Polaritäten. Es erschafft sich in Gegensätzen, die einen bunten Bogen von einem zum anderen Pol spannen. Diese Idee von Gegensätzen in Balance findet sich wieder in dem Symbol von Yin und Yang: Tag und Nacht, Sonne und Mond, Licht und Dunkelheit, Ebbe und Flut, Gebären und Sterben, Angst und Liebe, Männlich und Weiblich sind Ausdruck dieser erschaffenden Polarität. Jeder Mensch, egal welchen biologischen Geschlechts oder welcher sexuellen Orientierung, trägt sowohl weibliche als auch männliche Qualitäten in sich, wobei die meisten Männer geprägt sind vom männlichen Prinzip, während die Mehrheit der Frauen geprägt ist vom weiblichen Prinzip. Da unsere Systeme aber immer nach Ausgleich streben, ist es wichtig für uns beide Aspekte in unser Leben zu integrieren. Seit mehreren Jahrhunderten verfolgt die Menschheit jedoch einen so einseitig männlichen Weg, dass die Wertschätzung des weiblichen Prinzips nach und nach völlig verloren gegangen ist oder maximal im familiären Kontext als „nice to have“ aber auf keinen Fall als bewundernswert deklariert wird. Machen, Erschaffen, Expandieren, Planen, Kontrollieren, Zielstrebigkeit und Rationalität haben Hochkonjunktur und lassen wenig bis keinen Raum für kreatives Chaos, Träumereien, Empathie, Entspannen, Genießen, Intuition, Rückzug und Sein. Dieser einseitige Lebensstil hat gravierende Folgen: wir sind reizbar, gestresst, fühlen uns getrieben und sind in permanenter Angst nicht genug zu leisten, zu wissen und zu schaffen. Für viele bedeutet es den Weg ins Burnout, die Depression, in Erkrankungen der Geschlechtsorgane oder sogenannte sexuelle Funktionsstörungen.

Vor allem aber für uns Frauen bedeutet es uns von unserer ureigensten Kraftquelle abzuschneiden und unsere Weiblichkeit zu verneinen, indem wir unsere Körper ablehnen, von unseren Blutungen genervt über angeekelt bis gepeinigt sind, unsere Geburten in Schichtpläne von Krankenhäusern eintakten lassen, unsere emotionalen Momente peinlich finden und unsere Sexualität den Vorstellungen einer Industrie anpassen, die garantiert nicht in unserem Sinn und Wohl gestaltet wurde. Es bedeutet für uns, dass wir nie genug sind, dass es immer noch etwas zu tun, zu optimieren gibt und vor allem, dass bitte ein Gedanke niemals aufkommen darf: dass es gerade gut sein könnte, genau so wie es ist.

Solange wir, egal ob Mann oder Frau, so mit uns umgehen und so verhaftet bleiben im einseitig Männlichen, wird es keine Gleichstellung und schon gar keinen Frieden zwischen den Geschlechtern geben.

Echte Gleichstellung braucht keine Geschlechtsneutralität sondern Wertneutralität.

Echte Gleichstellung braucht in meinen Augen keinen Ruf nach Geschlechtsneutralität, weil dabei eine Mogelpackung herauskommt à la „Wir können alle alles machen und werden – aber bitteschön nur solange wir dabei geschlossen im männlichen Prinzip agieren“. Echte Gleichstellung würde für mich bedeuten alle menschlichen Eigenschaften, die dem männlichen bzw. weiblichen Spektrum zugeordnet werden, nicht mehr mit gut (für männlich) und schlecht (für weiblich) zu belegen, sondern wertfrei zu behandeln.

Ja, das wäre zweifelsohne ein weiter Weg, der ein radikales Umdenken erforderlich machen würde. Aber eventuell wäre das Ergebnis, dass wir alle mal unser Hamsterrad verlassen und herausfinden könnten, wer wir wirklich sind und was wir hier eigentlich wollen. Und vielleicht würde das am Ende zu entspannten, zufriedenen, verantwortungsbewussten, für ihre Sache begeisterten Männern und Frauen führen, die sich gegenseitig respektieren und wertschätzen und an der einen oder anderen Stelle sinnvoll ergänzen.

Das wär doch was.